Bei all dem was Corona so mit sich bringt, stellen wir erstmalig eine Video – Lesung mit Nicolas Grunwald online. Hintergrund ist natürlich auch das Coronavirus, aber vorrangig geht es uns darum, Autoren, Musiker, Bildende Künstler*Innen etc. mit ihren Arbeiten online vorzustellen, die im weitesten Sinne einen Bezug zu Alles wird schön e.V. haben. Und so beginnen wir mit einer Lesung, deren Text hier gelesen oder als Video gehört und gesehen werden kann.
Die Seuche auf den Straßen
Lange haben sich die Bewohner der Industrienationen dank Antibiotika und Hygiene vor gefährlichen Infektionskrankheiten sicher geglaubt. Doch seit einigen Jahrzehnten verbreiten wieder Seuchen Angst und Schrecken in längst vergessenem Ausmaß.
Viele sind hauptsächlich als Abkürzung bekannt: HIV, BSE, H5N1, SARS, und die gefährlichste: SUV.
Während alle anderen zusammen weit weniger Todesfälle zur Folge haben als der Straßenverkehr, der Alkohol oder die Kombination aus beiden, bedroht SUV über seine klimatischen Auswirkungen die Menschheit als Ganzes, selbst in Gebieten, in denen die Seuche selber nie auftritt.
Schon der Name ist eine Krankheit, denn er bedeutet Sport Utility Vehicle, also sportliches Nutzfahrzeug.
Echte Nutzfahrzeuge sind das unsportlichste, was überhaupt auf Straßen herum gurkt: Bagger, Trecker, Lieferwagen. Welchen Nutzen erfüllt nun das SUV, was kann es, das nicht jeder mickrige Kleinwagen auch könnte?
Es kann enorme Mengen Dreck in die Luft blasen, durch sein hohes Gewicht bei Unfällen verheerenden Schaden anrichten, und durch seine überdimensionierte Höhe anderen Verkehrsteilnehmern die Sicht nehmen. So kann es auch eigene Unfälle erzeugen, sogar am Straßenrand ohne sich zu bewegen.
Und was ist mit nützlichen Eigenschaften?
Eher nicht. Es kann weder so viel Fracht transportieren wie ein Lieferwagen, noch so viele Personen wie ein Kleinbus. Auch beim Löcher buddeln und Acker pflügen macht es eine schlechte Figur. Es kann einigermaßen auf schlecht ausgebauten Feldwegen vorankommen, aber das konnten der Käfer und Winzlinge wie der Fiat 500 auch. Beim Häuser abreißen hat das SUV dank seines Gewichts gewisses Potential, ist aber gegen selbst den billigsten Bagger nicht konkurrenzfähig. Außerdem verbietet sich dieser Verwendungszweck aufgrund der zu erwartenden Kratzer im Lack.
Selbst in seinem natürlichen Hauptzweck, dem Protzen, unterliegt es Beschränkungen.
Der Vorsitzende des britischen Rolls-Royce-Club, sicher kein Gegner großer und teurer Autos, hat sinngemäß folgendes gesagt: Ein typisches SUV ist zu hässlich, um vor der Oper zu parken, und zu unpraktisch für die Großwildjagd in Indien.
Deswegen hatte die britische Edelmarke bis vor Kurzem auch keines im Sortiment. Alles, was die jemals auf die Straße oder in die Steppe geschickt haben, kann beides besser.
Wie konnte es passieren, dass ein so nutzloses „Nutzfahrzeug“ zur meistgekauften Fahrzeugklasse wurde?
Vereinfacht könnte man sagen, dass immer kleiner werdende Egos immer größere Autos erfordern.
Mit Transport und Mobilität hat das so wenig zu tun, wie der Uniformfimmel des Reichsfettsacks Hermann Göring mit dem Schutz der Haut vor Wind und Regen.
Als Wissenschaftler kann ich es mir nun nicht verkneifen, den Dingen gründlich auf den Grund zu gehen. Also erfand ich den Begriff „psychologische Penisnutzlast“, kurz PPNL. Diese Größe gibt an, über wie viel Gramm Penis ein Fahrer verfügen muss, um sich nicht seiner Klapperkiste zu schämen.
Um zehn Gramm Penis zu transportieren, was einem kleinen Finger entspricht, braucht man ungefähr eine Tonne Stahl. Hier besteht ein reziprokes Größenverhältnis, deswegen erfordern fünf Gramm Penis nicht eine halbe Tonne Stahl, sondern zwei Tonnen.
Mikroskope müssen um so größer sein, je kleiner das ist, was sie sichtbar machen sollen.
Das reicht vom tragbaren Gerät für Zellen und Bakterien übers tonnenschwere Elektronenmikroskop für Atome bis zum gigantischen Teilchenbeschleuniger für Etwasse, die zu klein sind, als dass man sich ihren Namen merken könnte.
Das SUV ist also so eine Art CERN für die Psyche und Männlichkeit: Je weniger Manneskraft es zu transportieren gibt, um so größer muss das Transportmittel sein.
Diese Formel ist nur bei Fahrzeuggewichten über einer Tonne linear. Schon eine Verkleinerung auf 900 Kilogramm setzt ein bestes Stück von über hundert Gramm voraus.
Bei echten Nutzfahrzeugen wie Lastwagen, gemeinsam genutzten Modellen wie Linienbussen oder Spezialfahrzeugen für Behinderte, kurz allem was weder sportlich noch sexy ist, entfällt dieser Zusammenhang völlig. Die PPNL kann hier ein Vielfaches des Fahrzeuggewichts betragen.
Richtig wild wird es bei Zweirädern. Die PPNL eines schäbigen Alltagsfahrrads von 20 Kilogramm ist nur theoretisch bestimmbar, sie liegt im Gigatonnenbereich. Rost und zerkratzter Lack erhöhen die PPNL jedes Fahrzeugs drastisch. Unter 15 Kilogramm kehrt sich die Kurve um. Bei superleichten Edel-Rennrädern kann der Wert in den unteren Grammbereich absinken. Der Grund ist, dass Sporträder ebenso wie Sportautos Statussymbole sind.
Eine Schwäche dieser Theorie ist, dass viele SUV-Fahrer Frauen sind. Mütter, die damit ihre Sprösslinge zur Fridays-for-Future-Demo karren. Auf diese Gruppe ist die Penis-Formel nur in wenigen Einzelfällen sinnvoll anwendbar.
Hier muss eine andere Formel her, die, wie immer wenn es um Frauen geht, deutlich komplizierter ist. Auf jeden Fall hängt das erforderliche Fahrzeuggewicht vom Emotionsquotienten (EQ) ab, von einem Selbstwertgefühls-Faktor, sofern nicht bereits im EQ enthalten, und vom IQ des Kindes.
Wenn ein Kind gezeugt wurde, damit die psychisch sehr schwache Mutter sich an seinen überragenden Leistungen aufrichten kann, dann wird es gefährlich. Erweist sich der Nachwuchs als Totalversager, so kann nur eines den psychischen Todesstoß abfangen: Ein großes Auto.
Nun zur Frage nach der Therapie.
Eine vollständige Heilung, von SUV und den meisten anderen großen Übeln wie z.B. Krieg, Diktatur und Facebook, ist mit Sicherheit erreicht, wenn Menschen lernen, sich selbst zu respektieren. Es würde schon reichen, wenn jene, die dazu beim besten Willen keinen Anlass finden können, an ihrer Persönlichkeit arbeiten, statt demonstrativ Besitz oder Ränge und Titel vor sich her zu tragen.
Mit diesem Therapieansatz werde ich mich näher beschäftigen, sobald die Menschheit dafür reif ist.
Also frühestens, wenn die Hölle zugefroren ist, und der AfD-Mitgründer Björn Höcke sich die Haut hat schwärzen lassen und darüber verzweifelt, dass er nach seiner Konvertierung zum Judentum nicht mehr die Pilgerfahrt nach Mekka antreten darf. Und so lange die Seuche SUV noch existiert, gefriert sowieso nichts.
Der gegenwärtige Zustand des Patienten (Menschheit, nicht Höcke) erlaubt nur palliative Behandlung, also Symptome lindern.
Besonders große Hoffnung setze ich dabei auf den Elektromotor.
Stellen Sie sich mal folgende Situation vor:
Die Ampel schaltet auf Grün. Sie sitzen im Auto und befehligen mehr als 400 PS. Um der Welt, und ganz besonders sich selbst, zu zeigen, dass Sie Eier haben (die durchaus auf Brusthöhe nach oben gerutscht sein dürfen), drücken Sie das Gaspedal voll durch. Weil Elektromotoren natural born Dragster sind, zum Beschleunigen aus dem Stand gebaut, geht das Ding ab wie eine Rakete auf einer Überdosis Speed, und brüllt dabei seine brachiale Kraft in die Welt hinaus.
Surr!
Auch der vollständige Umstieg auf ein Leihwagen- Robotaxi- und Carsharing-System ist vielversprechend. Wenn es Autos nicht mehr in Privatbesitz gibt, sondern nur noch stundenweise zu mieten, dann beweist ein 100.000-Euro-Straßenpanzer nicht mehr, dass ich sehr wohlhabend bin bzw. bis zum Autokauf war, sondern nur noch, dass ich ein paar hundert Euro habe, um ihn für ein paar Stunden zu mieten. Was mir offensichtlich gar nicht gehören kann, weil ganz groß „Autovermietung Hamburg-Süd“ drauf steht, kann ich auch nicht als Besitz vor mir her tragen.
Für die winzige Minderheit, die Autos nur als Transportmittel einsetzt, wäre diese Lösung äußerst praktisch. Sie müssen nicht länger mit dem für Familienausflüge angelegten Fünfsitzer zur Arbeit fahren, denn sie können einfach für jede Fahrt ein passendes Fahrzeug bestellen. Außerdem steht die Karre dann nicht 23 Stunden am Tag vorm Haus und frisst Geld. Man hat und bezahlt nur noch dann ein Auto, wenn man eines braucht.
Künstliche Intelligenz kann weitere Linderung schaffen. Die natürliche Intelligenz, soweit vorhanden, hat auf diesem Gebiet bisher jämmerlich versagt. Je dümmer der Fahrer ist, um so klüger muss das Auto sein. Es sollte auf jeden Fall das Lenken übernehmen.
Auch darüber freuen sich die vernünftigen Autofahrer. Sie können die Fahrzeit nutzen, um zu lesen, oder die Windschutzscheibe als Kinoleinwand benutzen.
Hunderte PS sind kein Ausdruck von Macht und Stärke mehr, wenn sie sich selber kontrollieren, und ich ihnen keine Befehle erteilen kann. Dann reichen auch dreißig.
Zusammengefasst ergibt das alles ein Therapiekonzept namens KILL:
Künstliche Intelligenz + Leihwagen + Lithiumakku.
Nicolas Grunwald