Faszination Mensch
Flut
Faszination Mensch
Auf den Konzertplakaten auf dem Bahnsteig stehen völlig unbekannte Namen, vieles unverständlich, absichtlich falsch geschrieben, denkt George, einiges scheint witzig gemeint zu sein. Man fühlt sich überholt, überrannt, überaltert – so wie Doctor Who auf einer Zeitreise, auf einem fremden Planeten oder im Paralleluniversum gelandet. George ist schlecht gelaunt, wenig geschlafen, irgendwas Blödes geträumt, er weiß nicht mehr was. Noch ins Parkhaus auf dem Dach des Einkaufzentrums. Wie jetzt weiter? Mal sehen, wo die anderen hinlaufen. So kommt er in die Schöne Neue Einkaufswelt, setzt sich mit belegtem Brötchen und Cappucino zu überhöhten Preisen in ein Straßencafé, das heißt in die glasüberdachte, indirekt frühjahrsbesonnte Ladenpassage im dritten oder vierten Stockwerk. Plakatfahnen hängen in die Ladenschlucht hinab, Aufschrift: Entdecke deinen Körper. Faszination Mensch. Das Mannequin gegenüber, das mit überbetonten Idealmaßen (wer legt die fest? Evolution? Markt?) Dessous anbietet, hat keinen Kopf. Klinisch sauber. Angenehm. Der weiße Kunstkopf steckt im Nachbargeschäft im Hals eines einer Bluse ähnlichen Oberbekleidungsartikels. Unten zwei Stockwerke tiefer ist ein UFO in Form eines riesigen blau-weißen Gehirns gelandet, dunkelhäutige Kinder krabbeln darauf herum wie Aasfliegen, ihr Gekreische ist hier oben nicht zu hören. Ein Reisebüro lockt mit dem ultimativen Traumurlaub.
Das Leben ist sowieso ein verrückter Traum. Das wußte schon Calderon. Kommt nur drauf an, wer einen gerade träumt. Und wenn der dann aufwacht…? Komisch, denkt George, daß ich mich nach dem Erwachen selten an den letzten Traum erinnern kann, ist alles sofort gelöscht. Weg. Aber im Traum, weiß ich noch genau, wer ich bin, oft auch wo und mit wem, kann auch aufwachen, wenn ich will und mich in die sogenannte Wirklichkeit flüchten. Auch umgekehrt? Welche Verbindungen gibt es zwischen diesen Formen des Bewußtseins? Oder träume ich beim Wachen weiter, unterschwellig, sozusagen. Und dann erinnere ich mich plötzlich, déjà-vu, schon mal gesehen, sagt man völlig zutreffend. Wieviele Ebenen gibt es da, oder sind das Dimensionen? Ich träume Sie in der vierten Potenz, Herr Kollege! Ob der Mrożek den Jakob Böhme gelesen hat, schließlich waren sie fast Landsleute. Manchmal, denkt George, bleibt so ein mehr oder weniger prägnantes Detail eines Traums im Gedächtnis hängen, oft nur eine Struktur wie Gegensatz oder Widerspruch oder Rückkehr oder Versöhnung, manchmal ein Bild. Wie neulich, im Traum erwachte ich neben einer Frau und sie sagte „Das ist schön, mal wieder neben Dir aufzuwachen“ – wer war das nur? Sehr vertraut. War sie blond oder dunkel, bleich oder braungebrannt vom Urlaub?
Da fällt sein Blick auf die Schlagzeile einer Tageszeitung: Aufatmen in Griechenland, die Touristiksaison ist gerettet. Haifischbedrohung der Badestrände vorbei. Kein Wunder, die liegen alle vollgefressen auf Grund. Bei deart reichlichem Nahrungsangebot ist jedoch mit massenhafter Vermehrung zu rechnen und wenn dann der Nachschub ausbleibt, wegen der Hungersnot weiter südlich –
George ist müde. Vor vielen Jahren hatte ihm eine Freundin einen Hai als Krafttier geholt. Später in der Saune war er ins Dösen gekommen und fühlte sich ins warme schweflige Wasser von Bagno Vignoni wie in Andrej Tarkovskijs Nostalghia entrückt, worin Schwärme kleiner Haifischlein ihn umschwänzelten, und er hatte sie zu animieren versucht, ihm das vermeintliche Prostata-Karzinom wegzuknabbern.
Zu dieser Zeit war er auch auf ihr Zuraten bei einer anderen mit ihr gut befreundeten Schamanin gewesen, die hatte ihn auf eine ihm selbst bis dato nicht mögliche Reise in die untere Welt mitgenommen. „Was siehst Du?“ hatte sie gefragt. – „Nichts“, sagte er zunächst, doch dann – „Dahinten links steht ein Auto, dessen Bremslichter leuchten, eine schlanke Frau steigt aus, sie ist bleich, ihr Mund grell geschminkt…“ – „Vergessen wir die mal jetzt“, hieß es, „siehst du keinen Krieger oder sowas?“ – Und da hatte er ihn gesehen, hinten rechts am Wald, seinen inneren geistigen Krieger, eine Mischung aus Berggorilla und Gershon Dzfongo, einem ihm noch schwach erinnerlichen väterlichen Ghanaer aus Studientagen in einer früheren westschottischen Industrie- und Hafenstadt, der aber damals schon auf den Bermudas lebte, und der hatte ihm mit seinem kehligen westafrikanischen Akzent, der sich um ein gepflegtes Oxford-Englisch bemühte, was für Farbige im Vereinigten Königreich lebenswichtig ist, sodann die genauso knappe wie ordinäre Anweisung gegeben „Go, man, go fuck“ und auch noch „do your homework“, was er später auch bei Tim Parks bestätigt fand. Aufgeräumt berichtete George zuhause von seiner Erkenntnis und selbstredend führte das zu einem heftigen Zerwürnis der beiden esoterischen Damen. Es gab eifersüchtelnde Vorhaltungen, was denn da in Gang gesetzt wurde und mit welchen Absichten und auch Erklärungen und Rechtfertigungen sowie schließlich eine zerknirschte Entschuldigung der Reisebegleiterin bei George „Du bist jetzt mein Meister“, denn für Schamaninnen gilt wie für die Götter in Weiß die absolute Schweigepflicht. – Aber zuvor, nach der Sitzung war George erleichtert ans Meer gefahren, kroch in den Dünen in seinen Schlafsack inmitten des Sanddorngestrüpps und ließ den Blick an der Wasserlinie entlang dem schwarzen Saum von Seetang folgen. Eine Frau kam von dort ihm entgegen, ihr bleiches Gesicht ihm zugewandt, ihr blutrot umrandeter Mund schien offen zu stehen wie ihr langer flatternder Mantel – Ein Auto fährt vorn übers Dach, ein Mann, übergewichtig und schwitzend tritt hinter den Stuhl von George, der hochschreckt, der Mann bückt sich und hebt die Jacke von George auf, die von der Lehne gerutscht war. Faszination Mensch
Aus: „Träume vom Schäfer von Schafen von Toten vom Überleben“ © UL 2017-2020
Anmerkungen: Doctor Who – populäre langlebige Britische Science-Fiction Fernsehserie Pedro Calderón de la Barca, La vida es sueňo 1636 – dt. Das Leben ein Traum, Drama Slawomir Mrożek, Eine wundersame Nacht 1936, Einakter Jakob Böhme, deutscher Philosoph und Mystiker aus Schlesien 1575-1624 Andrej Tarkovskij, Nostalghia, Spielfilm 1983 Tim Parks, Teach Us to Sit Still. A Sceptic’s Search for Health and Healing 2010
Flut
Gegen 3 Uhr nachts rissen die Wolken auf und es zeigte sich dann doch noch der Vorfrühlingsvollmond „zum Anlegen der Lämmer“ – oder „Imbolc“ in der Sprache der Kelten, wie es vielleicht früher auf meinem Hof zeitlich hinkam. Heute nacht reichte sein Licht aus, um die inzwischen recht übersichtlich gewordene Herde, die vom Rückstau der Elbeflut eingeschlossen zu werden drohte, vor dem Ertrinken zu retten. Zusammengedrängt standen die Tiere auf einer Erhebung der Weide nahe beim Ufer. Sie hatten Angst. Ich sprach beruhigend mit ihnen und lockte sie mit Futter. Zögerlich folgten sie, eins nach dem anderen – ins flache Wasser hinein. Ich wählte einen Pfad über besonders seichte Stellen. Schwimmen war ausgeschlossen. Das lange Vlies hätte sich sofort vollgesogen und sie herabgezogen. Ruhig und vertrauensvoll ließen sie sich durch das Wasser führen, immer eins hinter dem anderen, dem sicheren Pfad folgend, das Leitschaf dicht hinter mir. In der Dunkelheit war der Wiesengrund nicht zu sehen. Bei Tageslicht hätten sie den Weg auch allein gefunden, doch nun stieg das Wasser. Schließlich hatte ich alle Schäfchen im Trockenen, auf höher gelegenem Land. Alle diese Tiere sind bei mir geboren, zum Teil habe ich sie eigenhändig ans Licht gezogen oder mit der Flasche durchgebracht. Und sie werden bei mir sterben oder sind es schon, fast alle in meinem Beisein. Ich habe sie jeden Tag ihres mehr oder weniger kurzen Lebens gesehen und versorgt. Ihre Zuneigung und ihr Vertrauen sind ungebrochen und überwältigend. Das ist mehr als ich von einem einzigen Menschen sagen kann. Heute nacht im klaren, kalten und auch bitteren Licht des vollen Mondes.
Nachtrag. Zu Beginn dieses Jahrhunderts, das auch das erste des neuen Jahrtausends ist, gab es gleich drei Jahrhundertfluten kurz hintereinander. Die Wiesen am Fluß, wo die Schafe lebten, sind jetzt kahl und aufgewühlt von Baggern, der Fluß wird umgeleitet, renaturiert, wie es heißt, eine Ausgleichsmaßnahme zur Elbvertiefung. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich die Natur erholt und die Tiere, wenn es die dann noch gibt, zurückkommen. Schafe waren es mal an die hundert. Jetzt ist mir ein letztes geblieben im Winterstall. Geduldig, mühsam und einsam – trotz des jungen Beistellschafes, das es nicht kennt – steht es jeden Tag auf und frißt und weiß nicht, wie viele Tage es noch hat. Genauso wie ich. Und vielleicht ahnt es es in seiner Gelassenheit auch, wieviel Mut dazu gehört, am Leben zu bleiben.
In seinen letzten Tagen wähnte sich das Tier, wieder ein Lamm zu sein, sog gierig und lustvoll wirkungslose Hemmstoffe und Stärkungsmittel wie Aminosäureverbindungen und Pansenstimulans als wäre es süße Muttermilch aus der Flasche. Das Leben ist nur ein Traum, eine approximative, randomisierende Rechenoperation hochempfindlicher Sensoren, störanfällig verbunden mit selten genug gleichtaktender Neuronenclustern, die uns ein einheitliches und vergängliches Bild einer unbekannten Welt vorgaukeln.
Aus „Träume vom Schäfer von Schafen von Toten vom Überleben“ © UL 2016 – 2020