Faszination Mensch
Auf den Konzertplakaten auf dem Bahnsteig stehen völlig unbekannte Namen, vieles unverständlich, absichtlich falsch geschrieben, denkt George, einiges scheint witzig gemeint zu sein. Man fühlt sich überholt, überrannt, überaltert – so wie Doctor Who auf einer Zeitreise, auf einem fremden Planeten oder im Paralleluniversum gelandet. Dann noch ins Parkhaus auf dem Dach des Einkaufzentrums. Wie jetzt weiter? Mal sehen, wo die anderen hinlaufen. So kommt er in die Schöne Neue Einkaufswelt, setze sich mit belegtem Brötchen und Cappucino zu überhöhten Preisen in ein Straßencafé, das heißt in die glasüberdachte, indirekt frühjahrsbesonnte Ladenpassage im dritten oder vierten Stockwerk. Plakatfahnen hängen in die Ladenschlucht hinab, Aufschrift: Entdecke deinen Körper. Faszination Mensch. Das Mannequin gegenüber, das mit überbetonten Idealmaßen (wer legt die fest? Evolution? Markt?) Dessous anbietet, hat keinen Kopf. Klinisch sauber. Angenehm. Der weiße Kunstkopf steckt im Nachbargeschäft im Hals eines einer Bluse ähnlichen Oberbekleidungsartikels. Unten zwei Stockwerke tiefer ist ein UFO in Form eines riesigen blau-weißen Gehirns gelandet, dunkelhäutige Kinder krabbeln darauf herum wie Aasfliegen, ihr Gekreisch ist hier oben nicht zu hören. Schlagzeile einer Tageszeitung: Aufatmen in Griechenland, die Touristiksaison ist gerettet. Haifischbedrohung der Badestrände vorbei. Kein Wunder, die liegen alle vollgefressen auf Grund. Bei derart reichlichem Nahrungsangebot ist jedoch mit massenhafter Vermehrung zu rechnen und wenn dann der Nachschub ausbleibt, wegen der Hungersnot weiter südlich – George ist müde. Viele Jahre vor der Trennung hatte ihm seine Freundin einen Hai als Krafttier geholt. Später in der Saune war er ins Dösen gekommen und fühlte sich ins warme schweflige Wasser von Bagno Vignoni wie in Andrej Tarkovskijs Nostalghia entrückt, worin Schwärme kleiner Haifischlein ihn umschwänzelten, und er hatte sie zu animieren versucht, ihm das vermeintliche Prostata-Karzinom wegzuknabbern.
Zu dieser Zeit war er auch auf ihr Zuraten bei einer anderen mit ihr gut befreundeten Schamanin gewesen, die hatte ihn auf eine ihm selbst bis dato nicht mögliche Reise in die untere Welt mitgenommen. „Was siehst Du?“ hatte sie gefragt. – „Nichts“, sagte er zunächst, doch dann – „Dahinten steht ein Auto, dessen Bremslichter leuchten, eine schlanke Frau steigt aus, sie ist bleich, ihr Mund grell geschminkt…“ – „Vergessen wir die mal jetzt“, hieß es, „siehst du keinen Krieger oder sowas?“ – Und da hatte er ihn gesehen, hinten am Wald, seinen inneren geistigen Krieger, eine Mischung aus Gorilla und Gershon, einem ihm noch schwach erinnerlichen väterlichen Ghanaer aus Studientagen in einer früheren westschottischen Industrie- und Hafenstadt, der aber damals schon auf den Bermudas lebte, und der hatte ihm mit seinem kehligen westafrikanischen Akzent, der sich um ein gepflegtes, für Farbige im Vereinigten Königreich lebenswichtiges Oxford-Englisch bemühte, sodann die genauso knappe wie ordinäre Anweisung gegeben „Go, man, go fuck“ und auch noch „do your homework“, was er später auch bei Tim Parks bestätigt fand. Aufgeräumt berichtete George zuhause von seiner Erkenntnis und selbstredend führte das zu einem heftigen Zerwürfnis der beiden esoterischen Damen sowie zu einer zerknirschten Entschuldigung der letzteren: „Du bist jetzt mein Meister“, denn für Schamaninnen gilt wie für die Götter in Weiß die absolute Schweigepflicht. – Nach der Sitzung war George erleichtert ans Meer gefahren, kroch in den Dünen in seinen Schlafsack inmitten des Sanddorngestrüpps und ließ den Blick an der Wasserlinie entlang dem schwarzen Saum von Seetang folgen. Eine Frau kam von dort ihm entgegen, ihr bleiches Gesicht ihm zugewandt, ihr blutrot umrandeter Mund schien offen zu stehen wie ihr langer flatternder Mantel – ein Auto fährt vorn übers Dach, ein Mann, übergewichtig und schwitzend tritt hinter den Stuhl von George, der hochschreckt, der Mann bückt sich und hebt die Jacke von George auf, die von der Lehne gerutscht war. Faszination Mensch.
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